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Wenn Brigitte Jäger nervös ist, geht sie zur Spüle und wäscht Geschirr ab. Dabei summt sie leise vor sich hin. Das ist sehr meditativ und beruhigt mich wieder, sagt die 39-jährige. Auch wenn die Telefonistin traurig ist, hilft ihr Gesang: Dann lege ich zu Hause eine CD mit einem Requiem auf und singe ganz laut mit. Nach einer halben Stunde geht es ihr besser. Jäger: Ich habe dann das Gefühl, ich hättes was mitgeteilt, obwohl ich mit niemandem geredet hab. Ihr Kopf ist wieder frei für die Herausforderungen des Alltags.

Dr. Karl Adamek bezeichnet Gesang als Gesundheitserreger. Der Musikpsychologe weiß, wovon er spricht: Seit 20 Jahren beschäftigt er sich mit der Wirkung des Singens auf Körper und Seele. Er untersuchte 201 Personen, um herauszufinden, wie Gesang den menschlichen Körper beeinflusst. Seine Versuchskaninchen mussten z.B. 500-Gramm-Gewichte so lang mit ausgstreckten Armen halten, bis sie nicht mehr konnten. Im Schnitt hält das ein Mensch etwa zehn Minuten lang aus, dann ist er erschöpft. Was den Musikpsychologen verblüffte: Der Ausdauertest klappte bedeutend besser, wenn die Testpersonen dabei sangen – dann konnten sie die Gewichte rund 15 Minuten halten.

Diesen Energie spendenden Effekt des Gesanges kannten auch die Sklaven auf den amerikanischen Baumwollfeldern: Ihre traurigen und schleppend gesungenen Weisen halfen ihnen, die Gleichförmigkeit und die Belastung beim Pflücken der Baumwolle besser zu ertragen. Aus demselben Grund gab es bei den Seeleuten Lieder: Die sogenannten Shantys sorgten für den richtigen Takt bei Aufgaben, die nur gemeinsam erledigt werden konnten, und für die Kraft, um die Arbeit mit den schweren Tauen zu bewältigen.

Singen wirkt jedoch nicht nur positiv auf die Muskelkraft — es ist auch gut für den Geist: Dr. Adamek legte 34 seiner Versuchspersonen einen Konzentrationstest vor. Dabei mussten kleine, mathematische Probleme gelöst werden. Nach dem ersten Testdurchlauf gab es für alle Probanden eine Pause. Dabei durfte sich eine Hälfte frei entspannen, die andere sollte singen. Nach 30 Minuten legte er beiden Gruppen einen weiteren Test vor. Ergebnis: die singenden Versuchspersonen schnitten sehr viel besser ab als jene, die sich ohne Lieder entspannt hatten.

Der eigene Gesang vermag nicht nur die Aufmerksamkeit zu erhöhen, sondern kann helfen, negative Gefühle zu verarbeiten. Singen ist eine effektive Bewältigungsstragie bei Stress und Enttäuschungen, denn es reguliert die Emotionen, betont Dr. Adamek. Auch Aggresionen könnten so abgebaut werden. Marianne Spieker-Henke, Gesangspädagogin und Logopädin an der Hochschule für Künste in Bremen, unterstützt diese These: Singen heißt, aus dem Unbewussten Melodien strömen zu lassen, wenn die Einsamkeit unerträglich wird oder die Angst vertrieben werden soll. Gesang ermöglicht, eigene Befindlichkeiten auszudrücken und sich somit psychisch zu entlasten.

Verblüffend auch: Singende Menschen sind im Vergleich zu nicht singenden ausgeglichener und zufriedener mit ihrem Leben. Auch haben sie meist ein größeres Selbstvertrauen und sind häufiger guter Laune. Kurz: Sie sind einfach belastbarer. Dr. Adamek: Singen ist Lebenshilfe. Es ist deshalb schade, dass in den letzten Jahrzehnten das Singen immer mehr aus dem Alltag der Menschen verschwunden ist.

Um diesem Missstand zu begegnen, wurde auf Initiative von Dr. Adamek unter der Schirmherrschaft des inzwischen verstorbenen Yehudi Menuhin 1998 die Föderation und Aktionsgemeinschaft Il Canto del mondo (auf Deutsch etwa: Der Gesang der Welt) gegründet, die bundesweit so genannte Canto-Gruppen aufbaut. Dort treffen sich Menschen rein aus Spaß am Singen — ohne ehrgeiziges Konzertprogramm.

Dass Gesang auch bei extremen Gefühlen wie Trauer hilft, wussten die Menschen schon vor Jahrhunderten. Noch heute gibt es auf dem Balkan und in Südeuropa die Tradition, Klagelieder zu singen. Diese Lieder lassen Gefühle von Trauer ausströmen und lösen den Schmerz, sagt Gesangspädagogin Spieker-Henke. Beim Verlust eines geliebten Menschen sitzen Frauen am Totenbett und stimmen Sterbegesänge an: Gesang und Wehklagen gehen sozusagen ineinander über.

Musikpsychologe >Dr. AdamekSingen kann nicht nur seelische, sondern auch körperliche Schmerzen vertreiben. Manche Schamanen oder Medizinmänner singen mit den Patienten so lange, bis diese ihre Schmerzen weniger stark spüren.

Adamek vermutet, dass körpereigene Schmerzmittel, die Endorphine, bei der Linderung der Schmerzen eine Rolle spielen: Nach etwa 20 Minuten werden spezielle Neurotransmitter, also Botenstoffe, im Gehirn produziert. Auch Spieker-Henke sieht einen Zusammenhang zwischen dem Singen und bestimmten körpereigenen Stoffen, den so genannten Neuropeptiden. Die verknüpfen das Immun-, das Hormon- und das Nervensystem zu einem einzigartigen Netzwerk. Fröhliches Singen wirkt sich positiv auf die Ausschüttung dieser Botenstoffe aus und führt damit zu einer günstigen Beeinflussung der körperlichen und seelischen Lebensvorgänge – und somit auch des Immunsystems.

Schon in der Antike empfahl man Stimmübungen gegen körperlichen Leiden. Heutige Studien aus der Medizin bestätigen diese Erkenntnisse. So hilft Singen nicht nur gegen Stottern, sondern auch gegen Depressionen.

Rund drei Millionen Menschen sind in Deutschland in Chören organisiert – als aktive und passive Mitglieder, davon etwa 1,8 Millionen im Deutschen Sängerbund. Dr. Adamek: Nur 10 Prozent aller Menschen singen gar nicht. 50 Prozent singen viel. Und 40 Prozent singen eigentlich gerne, aber sie machen es nicht. Womöglich ist ihnen das Singen in der Schule verleidet worden. Schade.

Denn Singen tut immer gut und ist gesund — auch wenn es die meisten Menschen nach wie vor ausschließlich heimlich tun, wie die Telefonistin Brigitte Jäger.

Quelle: Readers Digest

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